Interview mit Hans-Jürgen Zimmermann (Hörfassung)
Was waren ihre Beweggründe sich dem NEUEN FORUM anzuschließen?
Ich habe in den 1980er Jahren in unserer Landeskirche Mecklenburg im Kirchentagsausschuss unter Leitung von Pastor Joachim Gauck aktiv mitgearbeitet. Ein
Schwerpunkt unserer Arbeit war die Vorbereitung des Kirchentages 1988 in Rostock. Auch in Ludwigslust war ich an der Vorbereitung eines „kleinen Kirchentags“ beteiligt. Hier und in Rostock habe ich vor allem an dem Thema: „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ gearbeitet. Das war schon zu DDR- Zeiten ein wichtiges Anliegen von mir, mit der Natur und unserer Schöpfung so umzugehen, dass wir die Zukunft unserer Enkel und Kinder im Blick haben müssen und sie bewahren.
In der ersten Zusammenkunft in Schwerin zur Gründung des NEUE FORUMs in der Paulskirche waren auch einige aus dem Stift Bethlehem. Krankenpfleger und Auszubildende zu denen jemand sagte: „Geht mal zu Hans Zimmermann, der macht bestimmt auch mit und unterstützt euch“. Diese jungen Leute kamen dann zu mir und da nahm es seinen Anfang mit meinem Engagement für die Bürgerbewegung in Ludwigslust.
Weil sie sich noch nicht erfahren genug gefühlt haben so einen Prozess zu leiten, bin ich dann schnell in die Rolle eines Moderators der friedlichen Revolution in Ludwigslust gekommen. Die Öffnung der Kirchen und die Unterstützung der Pastoren waren auch
bei uns eine wichtige Grundlage unseres Erfolgs. Das war zuerst die Stiftskirche und dann später die Stadtkirche, weil die Stiftskirche dann auch viel zu klein wurde.
Mein Aufgabe habe ich darin gesehen, dafür zu sorgen, dass alle unsere Veranstaltungen friedlich verlaufen und dass die Menschen, die lange das Bedürfnis hatten, sich aber nicht getraut haben, offen anzusprechen was sie bedrückt und belastet hat, endlich mal zu Wort kamen und frei sprechen konnten. Dabei ging es nicht nur um mehr Freiheit, oder Reisefreiheit, sondern um unser Bildungssystem mit immer mehr Politisierung und Militarisierung des Unterrichts, Ungerechtigkeiten in der Wohnungsvergabe, dem Verfall wertvoller Bausubstanz und um vieles mehr.
Wer hat Sie bei der Organisation unterstützt?
Wir waren schon ein Gruppe von Leuten nicht nur aus Ludwigslust, sondern auch aus Grabow, Neustadt-Glewe, Groß Laasch, Eldena und anderen Orten der Region. Unterstützt hat mich vor allem Probst Günther, der Stiftsprobst in Ludwigslust, Pastor Romberg, der es auch in die Hand genommen hat, die Stasi-Dienststelle in Ludwigslust aufzusuchen und dort Einfluss zu nehmen, dass nicht alle Akten verbrannt oder vernichtet werden. Es gab vor allem auch aus den Kirchgemeinden und von Bürgern aus Ludwigslust, aber auch von vielen jungen Leuten aus dem Stiftkrankenhaus aktive Unterstützung.
Wie sah die Zusammenarbeit aus?
Es gab Treffen, die vor allem das Ziel hatten Veranstaltungen so vorzubereiten, dass man sozusagen einen Auftakt hatte. Das begann mit den Friedensgebeten, Fürbitten und dann ging es weiter mit Informationen zu aktuellen Ereignissen und dann folgte die offene Aussprache. In der ersten Veranstaltung zum Beispiel, am 19. Oktober im Stift Bethlehem, habe ich dann den - von Bärbel Bohley und anderen - verfassten Aufruf des NEUEN FORUMS verlesen.
Wie würden Sie die politische Basis der Gruppe bezeichnen?
Geeint hat die Menschen die Einsicht, dass sich etwas verändern muss. Es kann so nicht weitergehen. Es gab ja auch immer mehr Bürger, die auch Ausreiseanträge gestellt haben. Und da sagten sich viele: „Wenn die besten Leute“ - so hat man das ja oft gesehen - „unser Land verlassen, was soll denn aus unserem Land werden? Da muss doch was passieren.“ Und wenn dann noch hinzukam, dass es plötzlich immer mehr wurden, weil die Grenzen Richtung Ungarn und CSSR durchlässig wurden, da wurde das Gefühl nur noch verstärkt: „Es muss sich was ändern!“
Und vor allem: „Wir wollen uns nicht länger alles vorschreiben lassen und wir wollen uns unsere Freiheit nicht so beschneiden lassen.“ Die Freiheit auch zu reisen und unsere Verwandten zu besuchen. Auch wirtschaftlich war das für viele, leider nicht für alle, erkennbar, dass wir uns so abgewirtschaftet hatten und dass da unbedingt Handlungsbedarf war.
Haben Sie jemals über Ausreise oder Flucht nachgedacht?
Nein. Weder ich noch jemand aus der Familie. Einige aus unserem Bekanntenkreis sind den Schritt gegangen. Aber die hatten konkrete Gründe. Zum Beispiel eine Freundin meiner Frau, welche in Berlin wohnte, wollte ihren kranken Vater, der dann als Pastor in den Westen gegangen war, besuchen und sie hat keine Besuchsreise genehmigt bekommen. Da hat sie gesagt: „Wenn mir das nicht erlaubt wird, meinen Vater zu besuchen, dann will ich das Land verlassen.“ und hat einen Ausreiseantrag gestellt.
Die Gründe waren sehr verschieden.
Aber ich hab sogar Ausreise in den Westen genehmigt bekommen. Zum Beispiel zu dem Kirchentag in Frankfurt. Noch mit einem Dienstvisum, weil das über die Landeskirche lief. So bin ich schon mal im Westen gewesen vor der Grenzöffnung. Und auch zu einem Verwandtenbesuch. Aber da war es ja so, dass immer nur einer aus der Familie einen Reisepass bekam. Entweder ich oder meine Frau. Zusammen hätten wir keinen Reisepass bekommen.
Haben Sie auch Repressalien als Mitglied der Landeskirche gespürt?
Eigentlich nicht. Nein, kann man nicht sagen. Es hat sicherlich eine Auswirkung gehabt für Leute, die studieren wollten. Die also sehr von der Kirche geprägt waren und wo das auch bekannt war. Dass man versucht hat, ihren Weg zu behindern oder sie auch einfach nicht zum Studium zugelassen hat. Ich denke auch, dass viele sich einfach nicht getraut haben sich zur Wehr zusetzen. Um das auch mal an einem Beispiel deutlich zu machen. Unser Sohn hatte 1989 auch Abitur gemacht in Ludwigslust und die Schulen haben ja versucht sehr stark für eine Offizierslaufbahn zu werben. Und da haben sie Einzelgespräche mit den Schülern in der elften Klasse geführt. Zum Gespräch mit dem Schuldirektor, dem Parteisekretär und dem Klassenlehrer wurden die Schüler einzeln vorgeladen mit dem Ziel, sie für die Offiziersausbildung zu verpflichten. Mein Sohn war damals noch keine achtzehn und ich habe ihm angeboten zu diesem Gespräch mitzukommen, wenn er das möchte, um ihn zu unterstützen. Ich weiß ja wie schwierig das in dem Alter ist, wenn man argumentativ noch nicht so gefestigt ist. Wenn man dann drei Lehrern gegenüber sitzt ist das auch schon eine Drucksituation. Ein Tag vor dem Termin meinte er, dass es ganz gut wäre, wenn ich mitkommen würde und ich meinte: „Na, dann sag Deinen Lehrer mal Bescheid, dass du nicht alleine erscheinst.“ Eine Stunde später kommt der Klassenlehrer zu ihm: „Das Gespräch fällt aus. Das hat sich erübrigt.“
Also, man hat sich auch einschüchtern lassen. Und viele haben auch nicht den Mut gehabt sich zu wehren.
Das stärkste Machtinstrument war die Einschüchterung?
Ich weiß von einigen, die wollten unbedingt ihr Abitur machen und haben, wenn es auf dem normalen Weg zur erweiterten Oberschule nicht klappte, dann ihren Facharbeiter mit Abitur gemacht. Sie haben oft über Umwege ihr Ziel doch erreicht. Man durfte nur nicht gleich aufgeben.
Wo kam bei vielen Menschen diese Einstellung her, nicht anecken zu wollen?
Ich denke, dass ist auch durch die Einflussnahme der Eltern, die auch ihre Erfahrung gemacht haben mit der Diktatur und die dann doch sehr schnell resigniert haben. Oder zumindest sich nicht getraut haben, sich zur Wehr zu setzen.
Ich habe z.B. 1983 oder 1984 kritisiert, dass im Einzelhandel Produkte, besonders Gemüse und Obst - oft von Kleingärtnern aufgekauft - angeboten wurden, ohne dass sie auf Einhaltung der Grenzwerte für Dünge- und Pflanzenschutzmittel geprüft wurden.
Ich habe das dann bei der zuständigen Prüfstelle der Kreishygieneinspektion eingefordert, als bei einer Stichprobe, die ich nehmen lies, herauskam, dass der zulässige Nitratwert weit überschritten war. Bereits dies wurde als staatsgefährdende Aktion angesehen und es wurde bei der Stasi ein operativer Vorgang „Nitrit“ angelegt. Vier Leute wurden damit beauftragt alles was ich unternehme zu kontrollieren und zu melden. Und das nur weil ich mich dafür eingesetzt habe, gesetzliche Bestimmungen der DDR, die es ja gab, einzuhalten.
Wenn man Ihnen zuhört, kann man den Eindruck gewinnen, dass Sie den Staat nicht ernst genommen hätten?
Das war ja nie mit Absicht. Ich wollte meine Grenzen nicht austesten. Ich hab einfach Handlungsbedarf gesehen und auch später erst erfahren, dass die mich beobachtet und Leute auf mich angesetzt haben. Ich weiß auch nicht, wie ich reagiert hätte, wenn ich das damals gewusst hätte. Aber so schnell aufgegeben hätte ich mit Sicherheit nicht. Letztendlich habe ich meine Arbeitsstelle deswegen nicht verloren. Vielleicht ist das auch ein Beispiel dafür, dass zu Wenige damals den Mut hatten, Dinge nicht einfach so hinzunehmen.