Joachim Gauck - Gespräche mit Akteur*innen der DDR-Opposition

Interview mit Joachim Gauck (Hörfassung)

Wo waren Sie am 9. November '89?

Oh…das kann ich ihnen sehr genau sagen. Ich war auf der Straße. Denn der 9.November 1989 war ein Donnerstag. Und der Donnerstag war in Rostock, was in anderen Städten der Montag war. Es war der Demo-Tag. Und seit dem 19. Oktober demonstrierten die Rostocker wöchentlich gegen das SED-Regime und haben ihnen Schritt für Schritt erklärt: Wir sind das Volk! Am 9. November waren wir schon ziemlich weit, denn wir hatten schon ein paar Mal überall im Land zu abertausenden demonstriert und die Volkspolizei war schon lieb und guckte brav zu, respektierte das NEUE FORUM. Ich war hier der Sprecher des NEUEN FORUMs. So war also Demo am 9. November. Und am Schluss dieser Demo war immer Kundgebung vorm Rathaus. Und so war es nun schon spät, weil wir ja abends immer mit dem Gottesdienst in drei/vier Kirchen parallel anfingen und danach erst die Demo war und eben erst ganz zuletzt der Abschluss vorm Rathaus. Da kamen dann, als sich alles bereits verlaufen hatte, zwei Polizisten zu mir und sagten: „Ja, wir haben da im Radio gehört, in Berlin soll die Mauer auf sein.“ Da hab ich sie angeguckt und dachte: Ihr Spinner! Ich hab zu ihnen gesagt: „Meine Herren machen Sie mal weiter ihren Job als Polizisten – wir demonstrieren weiter – und dann wird das schon irgendwann passieren.“ Dann kam ich nach Hause, hab das Fernsehen angemacht und dann hab ich die Fernsehbilder gesehen. Ich konnt`s nicht fassen. Aber so ist das, wenn Menschen sich ermächtigen. Plötzlich passieren wunderbare Dinge. 

Und wie kamen Sie zum NEUEN FORUM?

Oh Gott, wie kam ich zum NEUEN FORUM?! (Haut auf den Tisch) Irgendwas musste passieren. Ich hatte ja immer den großen Mund gehabt und hab so gepredigt, dass die Leute das auch verstanden, Was, wie ist. Und dann kam Dietlind Glüer, die Mutter der Rostocker Demokratie, zu mir und sagte: „Jochen, Du musst jetzt sprechen.“ Und so sprach ich dann immer bei diesen wöchentlichen Gottesdiensten. Die erste Andacht war noch ohne Predigt. Das war eine Fürbitt-Andacht für Menschen, die in Leipzig bei einer großen Demo vor dem berühmten 9. Oktober inhaftiert worden waren. Am Anfang hat die Polizei ja immer noch geknüppelt und gejagt. Wir haben übrigens auch bewusst nicht den Montag gewählt für die Demonstrationen. Wir wollten, dass die Kommunisten auch an anderen Wochentagen ruhig ein bisschen Aufregung hätten, und sind so auf den Donnerstag geraten. Und am 19. war es dann soweit. Wir sahen, wie die Menschen in Sachsen zu abertausenden auf der Straße waren und wir Mecklenburger waren wieder mal schluffig. Hoffentlich geht’s los! Und dann war es auch so. Dietlind Glüer hat praktisch dafür gesorgt, dass wir in Rostock dass NEUE FORUM gründeten und ich wurde dann sehr bald dessen Sprecher. Wir wollten zunächst nicht alle uns zersplittern, sondern haben die verschiedenen engagierten Bürger eingeladen doch erstmal im NEUEN FORUM mitzumachen. Und von da aus sind dann viele in andere Gruppen und Parteien gegangen. Also wie Christine Lucyga, die dann zur SPD ging.[1]

Das war dann später, aber wie würden sie zuvor die politische Basis beschreiben vom NEUEN FORUM?

Eine ganz breite Bewegung. Also der Kern, das ist bei `89 fast überall, besteht aus Aktivisten der evangelischen Kirche. Besonders in den kleineren Städten. Da waren ja keine Künstler-Zirkel wie in Berlin, Dresden und Leipzig. Sondern das sind Leute, die um die Kirche herum sozialisiert sind. Zum Teil kirchliche Mitarbeiter, aber auch aktive Christen. Und jetzt erweitert sich das plötzlich. Das NEUE FORUM wollte ja auch ganz bewusst, dass wir nicht nur eine Kirchenbewegung haben, sondern dass es eine Bürgerbewegung wird im weiteren Sinne. Und die kamen dann sofort dazu, weil die Leute merkten, dass etwas passieren muss. Da war der bleierne Sommer vorhergegangen, wo die jungen Leute alle ihre Rucksäcke nahmen und in den Westen verschwanden. Das war so deprimierend. Die faselten da immer noch von ihrem Sozialismus und feierten am 7. Oktober ihr Jubelfest und das ganze Land stand und guckte, was passiert. Und da war dieser Aufruf des NEUEN FORUMs so ein Signal zum Dialog. Und auch, dass das Volk sich seiner Rolle bewusst wird, war unheimlich wichtig. Ganz schnell kommen die Leute zusammen und der erste Briefkasten, den wir hatten, hatte noch einen Decknamen, weil wir uns da noch fürchteten. Da haben wir einen Namen erfunden: Nathan Frank. Und Nathan Frank lebte also in meiner Wohnung und sein Briefkasten hing neben meinem bei der Nikolaikirche 7. Da können sie mal spüren, dass trotz allen Aufbruchs immer noch Angst war. Deshalb hab ich in unserem Erinnerungsgottesdienst 2009 auch an diese Angst erinnert, die wir erst überwinden mussten. Das Interessante an dieser Phase ist, wie schnell Menschen, wenn sie sich dann tatsächlich ermächtigen, auch Dinge zu Wege bringen, von denen sie vorher nur geträumt haben. Und das ist der Reiz dieser Phase, als die Unterdrückten langsam erkannten: Wir waren ja ohnmächtig. Aber wir wollen doch Bürger sein. Wir sind das Volk. Und das NEUE FORUM hat nun im Grunde von links – linke Oppositionelle, also nicht SED-Links, sondern anständige Linke – Liberale und Konservative vereinigt. Da war alles drin! Und das war auch gleichzeitig die Stärke - als Bewegung gegen das Regime - und später die Schwäche - weil wir lange brauchten, um die politische Ausrichtung des NEUEN FORUMS zu diskutieren. 

Und wie war die Grundstimmung damals?

Unglaublich euphorisch. Also als die Leute die Angst verloren hatten. Deshalb war Leipzig so wichtig. Man kann also die Rolle der sächsischen Opposition gar nicht hoch genug schätzen. Und damit auch die Rolle dieser Kraftzentren um die Kirchen, hauptsächlich in Leipzig. Und dass die Menschen plötzlich merkten: Ach so, wir sind gar keine Staatstrottler, oder Staatsinsassen. Ach so, wir sind wirklich das Volk. 

Und wenn du da die 70.000 über den Ring ziehen siehst – und wir konnten das ja sehen, weil das Westfernsehen rübergeschmuggelte Aufnahmen hatte und dagegen konnte die DDR schreiben und zeigen lassen, was sie wollte – merkten die Leute: „Wir werden nicht zusammengeschossen. Hier ist nicht China.“ (Der Platz des himmlischen Friedens, wo `89 die ganzen Studenten niedergeknüppelt und  niedergeschossen wurden.) „Hier ist Leipzig. Hier ist die DDR. Und Honecker kann nicht mehr schießen lassen.“ In der Partei war inzwischen auch Widerspruch erwachsen. 

Es war eine Euphorie und ein Aufbruch. Ich bin dann durch meine späteren politischen Rollen in Deutschland sehr bekannt geworden und ich bin auch vielfältig geehrt worden für die Arbeit, die ich dann machte, aber wenn ich mich umschaue und in mein Leben hineinblicke, dann ist diese Zeit des Aufbruchs die größte und wunderbarste Zeit meines Lebens, als wir wirklich Befreiung erlebten. Ich wurde 50 damals und für uns war das ewig. Wissen sie, die DDR hatte ewig existiert. Als wir in den Kindergarten gingen schon und davor war auch schon Diktatur gewesen. Wir waren wie verurteilt zur Diktatur. Und plötzlich leuchtet die Freiheit und dann ist es wirklich so, dass das, was uns heute selbstverständlich erscheint, nämlich das wir freie Menschen sind, eine Strahlkraft hat und das war euphorisierend. 

Sie haben beschrieben, dass sie schon noch vorsichtig waren, auch in dieser Zeit. Haben sie später auch ihre Stasi-Unterlagen eingesehen?

Ich konnte sie mit als einer der ersten sehen. Denn ich war Abgeordneter in der ersten frei gewählten Volkskammer für Bündnis90. Und dort leitete ich einen Ausschuss, der die Stasi-Auflösung zu kontrollieren hatte. Wir misstrauten dem Innenminister Diestel, eigentlich misstraute ihm das ganze Parlament, und deshalb gab es einen Kontrollausschuss, der diese Auflösung begleitete. Alle Mitglieder dieses Ausschusses durften jedes Archiv und jede Akte sehen. Und als es darum ging, ein Gesetz zu schaffen, dass den Zugang oder Nicht-Zugang, das wir wussten noch nicht, zu den Stasi-Akten regeln sollte, sind wir ausgeschwärmt. Wir aus diesem Ausschuss haben uns einmal ein Bild gemacht was Stasi-Akten eigentlich sind. Ich gehörte hier nicht zu dem Bürgerkomitee, das in der Stasi saß und die Stasi-Auflösung machte. Die haben ja hier in Rostock zum Beispiel Wolfgang Schur enttarnt, der ein langjähriger Stasi-Spitzel war und sich nun anschickte Mecklenburg-Vorpommerns erster Ministerpräsident zu werden. Er stand mit Helmut Kohl auf den Marktplätzen. Ich kannte also Leute, die schon Stasi-Akten kannten, aber ich selber kannte sie nicht. Und so habe ich meine Akte dann zum allerersten Mal als Abgeordneter gesehen und konnte mir ein Bild machen wie zutreffend diese Akten sind. Denn wenn es nur Lüge gewesen wäre, was da so aufgehoben ist, dann hätte man gesagt: Na ja … das ist alles Mist. Das lassen wir mal. Aber es stellte sich heraus, dass diese Stasi-Typen so eine Art sächsische Überpreußen waren, die im Grunde alles schön säuberlich aufgeschrieben hatten. Dann haben wir gesagt: „Ja, wir öffnen diese Akten.“ Später hab ich es noch mal systematisch gesehen. Als es dann das Stasi-Unterlagen-Gesetz[2] gab, hab ich praktisch wie jeder andere Bürger auch Akteneinsicht beantragt, obwohl ich Herr der Akten war. Das war ganz eigenartig. Ich habe dann im Grunde noch mal in der Behörde als Bürger praktisch auch noch Akteneinsicht gehabt.

Und hatten sie Befürchtungen, als sie hineingeschaut haben?

Klar…dass hatten alle. Und wir wussten ja auch schon, wie viele Verräter es gab. Meine Befürchtungen haben sich nur in einem Fall als berechtigt herausgestellt. Ein Mitglied unseres Kirchgemeinderates. Ein junger Mann, der auch dann dabei war, wenn andere sich geoutet haben, dass sie angeworben werden sollten, aber dann Nein gesagt haben. Und dass hab ich auch gefunden. 

Nicht?! Stasi-Akten erzählen manchmal auch wunderbare Geschichten von Mut, Tapferkeit, Zivilcourage aber eben auch böse, von Verrat. Und das hab ich dann gesehen, aber Gott sei Dank weniger häufig.