Russland führt nicht nur mit Raketen und Panzern einen Krieg gegen die Ukraine, sondern auch mit Desinformationen. Putins Propaganda verfängt auch bei den Menschen hierzulande. Gerade in Ostdeutschland findet man Ressentiments gegen die ukrainische Staatsführung, gegen die NATO und gegen „den Westen“ allgemein – bis hin zu offenem Verständnis für die russische Invasion. Für den demokratischen Diskurs sind falsche Behauptungen und Halbwahrheiten gefährlich. Im Anschluss an unsere Gesprächsveranstaltung „Russland, die Ukraine und der Riss in Ostdeutschland“ sprachen wir mit dem Osteuropahistoriker Prof. Dr. Jörn Happel von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Inwiefern hat die Ukraine eine eigenständige (explizit von der russischen abzugrenzende) nationale, sprachliche und kulturelle Tradition?
Die Ukraine war und ist wie ihr Name schon sagt ein Grenzland – eine Region an der Grenze zur Steppe. Hier lebten die Nomadenvölker, die oft genug Europa bedrängt hatten. Der Austausch mit der Steppe war für die ukrainische Geschichte eine Normalität; ebenso wie der Austausch mit allen anderen Kulturen ringsherum. Ukrainer:innen besitzen eine eigenständige kulturelle Tradition, doch lebten sie immer im Kontakt mit Polen, Rumänen oder Russen. Letztere fassten erst durch die Eroberung des Khanats der Krimtataren Ende des 18. Jahrhunderts endgültig in der Region Fuß. Dadurch öffneten sich aber auch die fruchtbaren Gebiete für ukrainische und russische Bauernfamilien. Zudem siedelten sich Deutsche, Juden, Griechen in dieser neu zu erschließenden/kolonisierenden Region an. Dies ist ein Grund für die multikulturelle Zusammensetzung der ukrainischen Bevölkerung.
Einen ukrainischen Staat hat es über Jahrhunderte hinweg nicht gegeben. Eine erste Staatlichkeit entsprang dem kosakischen Erbe der Ukraine. 1648 riefen die Dnjepr-Kosaken ein Hetmanat aus, einen Kosakenstaat, der 1654 um russische Hilfe bat, um sich gegen Polen zu verteidigen. Um es salopp auszudrücken: Damals betrat erstmals seit dem Mittelalter Russland wieder ukrainischen Boden. Zuvor war die Ukraine Teil Polens und sollte dies auch noch länger bleiben. Dass Russland 1654 als Jahr der Unterwerfung der Ukraine unter seinen Machtbereich bis heute feiert, ist russischerseits propagandistisch verständlich, aber historisch unwichtig. Die Staatlichkeiten an der Steppengrenze waren alles andere als stabil, so lange das Krimkhanat und das Osmanische Reich von Süden her die Landstriche bedrohen konnten.
Ukrainer:innen lebten bis in das 20. Jahrhundert hinein vor allem in den ländlichen Regionen. Die überwiegende Mehrheit der ukrainisch sprechenden Bevölkerung lebte als Bauern. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit lebten diese in Abhängigkeit von polnischen Adligen – die Ukraine war Teil des großen polnisch-litauischen Staats. Erst durch die Zerschlagung Polens („Teilungen Polens“ 1772, 1793, 1795) gelangte der größte Teil der heutigen Ukraine an das Russländische Reich.
Angehörige der polonisierten oder russifizierten Oberschicht bewahrten sich ein ukrainisches Bewusstsein, aber sie hatten mit den ukrainischen Bauern wenig gemein. Mit der Bezeichnung Ukrainer oder mit den noch im 19. Jahrhundert populären Bezeichnungen Ruthene, Kleinrusse oder Chochol waren einfach nur Bauern gemeint. Diese Bauern sprachen Ukrainisch und bewahrten damit die ukrainische Sprache und Kultur. Im Laufe des 19. Jahrhunderts versuchten vor allem ukrainische Intellektuelle, eine ukrainische Nationalbewegung zu begründen. Sie wollten die Bauern in eine moderne Nation integrieren. Ihnen schwebte ein ethnisch-ukrainischer Nationalstaat vor.
Russland sah in den Ukrainer:innen niemals eine eigene Nation. Die in der Ukraine lebenden Menschen bezeichnete man als „Kleinrussen“. Das Ukrainische wurde als russischer Dialekt diffamiert und die Geschichte der Ukraine als Teil der Geschichte Russlands interpretiert. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren es die Zaren Nikolaus I. und Alexander II., die gegen ukrainische Bestrebungen vorgingen, Oppositionelle verbannten oder Presseerzeugnisse und Schulunterrichte in ukrainischer Sprache verboten. Daran änderten die Revolutionen des Jahres 1917 wenig. Im Gegenteil erfuhr die Ukraine im Russischen Bürgerkrieg Anfang der 1920er Jahre großes Leid mit hunderttausenden Toten. Letztlich starben Millionen unter Stalin während des Holodomors Anfang der 1930er Jahre. Dies ist ein Erbe der russischen und sowjetischen Geschichte, das bis heute schwer auf den Ukrainer:innen liegt.
Es gibt jedoch eine zweite Seite der Geschichte: Mit dem Zarenreich kam auch die Moderne in die Großstädte der Ukraine. Bergbau und Schwerindustrie wurden im Donbas angesiedelt. Universitäten wurden gegründet. Nun war nicht mehr Polen der Vermittler westeuropäischer Einflüsse für der Ukrainer:innen, nun war es Russland, aus dem die Moderne nach Kiev, Odessa oder Charkiv fand. Und doch blieben die Ukrainer:innen Landbewohner:innen. Die Modernisierung wurde von eingewanderten Menschen getragen, vor allem von Russ:innen.
Wie ist die staatliche Zugehörigkeit der Krim und heute ostukrainischer Gebiete, etwa im Donbass, historisch einzuschätzen?
Die Krim wurde als letztes der vier Nachfolgekhanate der Goldenen Horde Ende des 18. Jahrhunderts durch Katharina II. für Russland erobert. Auf der Halbinsel waren die Krimtatar:innen zuhause. Ende des 19. Jahrhunderts zogen viele Russ:innen und Ukrainer:innen auf die Krim. Im Zweiten Weltkrieg war die Krim stark umkämpft. Stalin misstraute der Loyalität der Tatar:innen und ließ sie deportieren. Während der Deportationen 1944 starben Zehntausende von ihnen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion siedelten sich die Krimtatar:innen wieder auf ihrer Krim an. 280.000 Krimtatar:innen erlebten 2014 die Besetzung ihrer Halbinsel durch Russland. Und viele waren so schockiert, wieder in Russland leben zu müssen, dass sie auswanderten.
Zu Russland gehörte die Krim vor 2014 nur kolonialhistorisch. Die Krim war immer ein besetztes Gebiet, das sich das Russländische Imperium erobert hatte und deren Bevölkerung es dominierte. An diesem Zustand hat sich bis heute nichts geändert, wenn auch heute mehr Russ:innen auf der Krim leben, auch weil in Sewastopol die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist.
Man darf hier natürlich fragen, welches Anrecht die Ukraine auf die Krim erheben darf. Die Antwort geben die Krimtatar:innen selbst, die in der Ukraine und eben nicht in Russland leben wollten. Ihnen kam im Nachhinein zugute, was Nikita Chruschtschow 1954 zum Leidwesen nationalistischer russischer Politiker heutzutage getan hatte: Anlässlich der 300-Jahrfeier der Unterstellung der ukrainischen Kosaken unter Russland hatte er die Krim von der Russischen in die Ukrainische Sowjetrepublik überführt.
Uneindeutiger ist es im Donbas – bis vor kurzem noch eine wichtige Wirtschaftsregion, die stark russisch geprägt war, die aber in Sowjetzeiten eben auch von ukrainischen Arbeiter:innen bevölkert wurde.
Der Donbas ist historisch gesehen eine besondere Grenzregion. Hier stoßen viele kulturelle Grenzen an der Steppe zusammen. Ende des 18. Jahrhunderts bildete sich im Land der Donkosaken eine russische Verwaltungseinheit. Das macht die Region aber nicht automatisch zu einer russischen Provinz. Die Donkosaken sahen sich als eigene „Nation“ an, die nach dem Sturz der Zarenregierung gegen die Bolschewiki kämpften. Der Donbas gehörte zur Ukrainischen Sowjetrepublik und ist somit immer noch Teil des heutigen ukrainischen Staats.
Fühlen sich die Menschen in der (Ost-)Ukraine heute auch noch eher Russland zugehörig?
Die Ukraine bildete sich erst in ihrer jetzigen geographischen Ausprägung nach dem Zweiten Weltkrieg heraus, als Stalin die westukrainischen Gebiete (Galizien) seiner Sowjetunion zuschlug. So stand die Ukraine im Osten 70 Jahre, im Westen nur 45 Jahre unter dem Einfluss der sowjetisch-russischen Herrschaft. Die Prägungen durch die Sowjetunion sind im Osten dadurch viel ausgeprägter als im Westen, wo man die Verbundenheit zu Europa über Polen und Österreich noch stärker fühlt. Im Osten der Ukraine ist man in den letzten Jahrzehnten sehr auf die Sowjetunion und hier auf Russland bezogen gewesen.
Die gemeinsame Vergangenheit mit Russland ist in der gesamten Ukraine zu spüren. Die Straßennamen verweisen auf eine gemeinsame Erinnerungskultur; die Denkmäler ebenso – jedenfalls dort, wo sie noch nicht abgebaut worden sind. Die Vergangenheit ist vor allem hinsichtlich des hohen Anteils der russischen Bevölkerung im Süden und im Osten zu bemerken. Hier dominieren die russische Sprache und Kultur. Gemeinsam ist die Erinnerung an historische Ereignisse, etwa an den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Zudem sind viele Persönlichkeiten der Geschichte russisch-ukrainisch gewesen. Letztlich sind Ukrainer:innen und Russ:innen orthodoxe Christen, was sie auch verbindet. Problematisch ist jedoch, dass man in Russland noch immer die Gleichrangigkeit eines ukrainischen Staats und einer ukrainischen Nation nicht anerkennt.
Hat die NATO durch den Bruch von Zusagen in Bezug auf ihre Osterweiterung den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine mitverschuldet?
Zunächst muss man festhalten: Es hat nie feste Zusagen in Bezug auf die Osterweiterung der NATO gegeben, sondern die osteuropäischen Staaten haben selbst Anträge gestellt, in die NATO aufgenommen zu werden.
Politisch und wirtschaftlich war die Sowjetunion ab Mitte der 1980er Jahre in eine chaotische Situation geraten. Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse, die die außenpolitischen Geschicke der Sowjetunion lenkten, gingen immer wieder auf die NATO zu. Sie machten Angebote für eine nukleare Abrüstung oder ebneten den Weg zur deutschen Wiedervereinigung. Sie erwarteten neben wirtschaftlichen Hilfen auch, dass die NATO nicht auf das Gebiet des Warschauer Pakts ausgreifen würde. Dass man die DDR durch eine Vereinigung mit der BRD in einen NATO-Staat aufgehen lassen würde, musste Gorbatschow mit einem hohen innenpolitischen Preis bezahlen. Doch zu dieser Zeit ahnte noch niemand, dass im August 1991 einige Putschisten versuchen würden, in Moskau die Macht an sich zu reißen. Das Scheitern dieses Putsches beschleunigte den Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts immens und sorgte schon im Dezember 1991 dafür, dass sich die vormaligen Sowjetrepubliken zu unabhängigen Staaten erklärten. Damit war die geopolitische Situation völlig verändert: Denn wer könnte souveränen Staaten verbieten, ihr Bündnis frei zu wählen?
In den folgenden Jahren blieb die NATO-Präsenz in Osteuropa – verglichen mit der russischen Präsenz – bis zum jetzigen Kriegsausbruch gering. Ein geplanter Raketenabwehrschirm, gegen den Russland starke Bedenken geäußert hatte, wurde nie errichtet. Eine faktische Bedrohung Russlands durch die Aufnahme verschiedener Staaten Osteuropas war folglich zu keiner Zeit gegeben.
Hatte die westliche Politik einen Einfluss auf die Protestbewegung des Euro-Maidan 2013/14 und wenn ja, welchen?
Der Einfluss der westlichen Politik auf die Ereignisse auf dem Maidan war begrenzt. Er beschränkte sich im Wesentlichen auf Zeichen der Solidarität. Der Aufstand wurde von der ukrainischen Zivilgesellschaft getragen und wurde maßgeblich durch das Verhalten der Demonstrant:innen und der ukrainischen Regierung beeinflusst.
Ist die Politik in der Ukraine maßgeblich von Korruption geprägt?
Wie viele andere Teilrepubliken auch litt die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion unter einer politischen Klasse, die die Politik vor allem als Mittel der individuellen Bereicherung und Machtsicherung verstanden hatte. Diese Zeit prägte die politischen Institutionen im Land. Was die ukrainische Gesellschaft aber von vielen anderen postsowjetischen Gesellschaften unterschied, war eine lebendige Zivilgesellschaft, die in der Lage war, sich immer wieder zu organisieren. Schon 2004 kam es zu Massenprotesten im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen im Land. Diese sogenannte „Orangene Revolution“ zeigte, dass die ukrainische politische Klasse mit dem Widerspruch der Bevölkerung rechnen musste. Trotzdem blieben im Anschluss an die Massenproteste zahlreiche Probleme bestehen – gerade auch im Bereich der Korruption. Mit der Wahl von Wolodymyr Selenskyj 2019 zum Präsidenten konnte sich ein Bewerber durchsetzen, der nicht direkt zur politischen Klasse der Ukraine gehörte und damit auch bei der Korruptionsbekämpfung mehr Freiheit hatte als viele seiner Vorgänger. Ob die Maßnahmen gegen die Korruption, die die ukrainische Regierung seither ergriffen hat, langfristig erfolgreich sind, ist schwer vorherzusehen.
Haben rechtsextreme Kräfte einen politischen Einfluss in der Ukraine?
Rechtsextreme Parteien spielten in der Ukraine eine kurzzeitige Rolle. Im heutigen politischen Leben ist ihr Einfluss marginal.
Bedeutet ein Waffenstillstand Frieden für die Ukraine?
Ein Waffenstillstand bedeutet zunächst, dass die Kampfhandlungen beendet werden. Dies ist dann sinnvoll, wenn davon ausgegangen werden kann, dass im Anschluss an einen Waffenstillstand eine politisch-diplomatische Lösung erzielt werden kann. Wenn folglich auf Seiten beider Konfliktparteien der Wille zu einer friedlichen Lösung vorhanden ist, wäre ein Waffenstillstand mehr als nur eine Feuerpause.