Johann-Georg Jaeger - Gespräche mit Akteur*innen der DDR-Opposition

Interview mit Johann-Georg Jaeger (Hörfassung)

Wie war das mit dem Wehrdienst? Sie haben sicher eine Einberufung bekommen.

Ich bekam den Einberufungsbescheid und habe dann schriftlich niedergelegt, dass ich „die großartigen Möglichkeiten der Deutschen Demokratischen Republik“ nutzen möchte und zu den Bausoldaten gehen will. Ich habe das mit einem Zitat von Erich Honecker begründet indem er etwas Positives über die Bausoldaten gesagt hat. Bei anderen hat es erhebliche Diskussionen und Druck gegeben, während ich als Sohn eines Pfarrers relativ anstandslos damit durchgekommen bin. Es gab ein kurzes Gespräch im Wehrkreiskommando und damit war die Diskussion schon erledigt.

Wie sah Ihr Alltag bei den Bausoldaten aus?

Der Alltag bei den Bausoldaten ist im Grunde dem normalen Grundwehrdienst sehr ähnlich gewesen. Mit Frühsport und allem drum und dran. Allerdings gab es natürlich während der Grundausbildung keinen Dienst an der Waffe. Nach Abschluss der zwei oder dreimonatigen Grundausbildung sind wir auf verschiedenen NVA-Baustellen eingesetzt worden. Wir haben vor allem auf Schießplätzen gearbeitet. Es gab aber auch Bausoldaten, die z.B. in einem Chemiekombinat gearbeitet haben. In Mecklenburg-Vorpommern gab es die größte Konzentration von Bausoldaten in Prora auf Rügen. 
Wir haben tatsächlich Kabelgräben und Schützengräben auf Übungsplätzen ausgehoben. Eigentlich Sachen, die wir mit unserem Gewissen auch nicht vereinbaren konnten. Es hat gerade auch deshalb viele Diskussionen und Streit innerhalb der Bausoldaten geben. Viele wollten aber keinen Ärger mit den Vorgesetzten haben. Da hieß es dann in den Diskussionen: „Komm, lass mich damit in Frieden. Ich will nach Hause zu meiner Familie.“

Ich selbst bin einmal fünf Monate nicht nach Hause gekommen, weil alle Kurzurlaube durch irgendwelche Strafen immer wieder gestrichen wurden. Dass hatte durchaus schon „Knastcharakter“. Die Strafen hatte ich z.B. für das Schreiben eines Tagebuches erhalten und weil ich mich unerlaubt während einer Baustellenwache mich nicht unmittelbar am Übernachtungszelt aufgehalten hatte. Manchmal wurde Urlaub auch kollektiv gestrichen.

Fanden Durchsuchungen der Sachen statt?

Bei den Bausoldaten wie bei allen NVA-Soldaten. Das war allen bekannt, dass der Spind durchsucht werden kann. Darauf war ich auch vorbereitet. Mein Tagebuch ist aber anders aufgeflogen. Ich war außerhalb des Lagers zu einer Baustellenwache eingeteilt, damit dort niemand über Nacht etwas klaut. Normalerweise kam auch nur sehr selten ein Vorgesetzter vorbei. Deswegen konnten wir auch mal einen Spaziergang durchs Gelände unternehmen. Und an diesem Tag kamen nun die Offiziere und sahen, dass keiner am Zelt war. Im Anschluss haben sie meine Sachen durchsucht und das Tagebuch gefunden. Und für das Tagebuch bin ich dann auch in erster Linie bestraft worden.

War das die gängige Strafform? Dass man nicht nach Hause durfte?

Die Streichung des Ausgangs oder des Urlaubs war eine Form. Für kleinere Vergehen, z.B. Knopf an der Uniform nicht geschlossen, gab es „Dienstverrichtungen außer der Reihe“. So musste man dann fünf Stunden den Hof fegen oder ähnliche Dinge erledigen. Bekam man fünf „Dienstverrichtungen außer der Reihe“, so musste man dann fünfundzwanzig Stunden ableisten. Die Tagebuch-Geschichte hätte aber wirklich ernster enden können. Da drohte mir durchaus eine Gefängnisstrafe in einem Militärgefängnis, weil das Führen eines Tagesbuches im Bereich von Spionage, also der „Nachrichtensammlung zum Nachteil der DDR“ angesiedelt wurde. So drohte mir konkret ein Monat Schwedt. Dieser NVA-Knast war allgemein sehr gefürchtet, weil das ein wirklich harter Strafvollzug war. Härter als der normale DDR-Strafvollzug.

Hat Sie die Bausoldatenzeit nachhaltig geprägt?

Natürlich, aber eine Erfahrung, auf die ich gerne verzichtet hätte!  Die Bausoldaten waren keine homogene Truppe. Es gab Leute, die sich aus einer christlichen oder pazifistischen Einstellung heraus dort gemeldet hatten  – zu denen ich mich eher zählte. Es gab aber auch Leute mit einer sehr fundamentalistisch christlichen Position. So kam es unter den Christen zu ziemlichen Auseinandersetzungen. Außerdem war da die Gruppe der Leute, die einfach einen Ausreiseantrag gestellt haben und deswegen gesagt haben: „Ich lehne es ab für diesen Staat eine Waffe in die Hand zu nehmen.“ So konnten sie ihren Ausreiseantrag beschleunigen. Es gab sehr vereinzelt sogar Leute, die auf Grund von irgendwelchen kriminellen Handlungen zu den Bausoldaten versetzt wurden. Man wollte denen nicht den Wehrdienst erlassen aber auch keine Waffe in die Hand geben.

Deswegen war das Bild der Bausoldaten nach außen und innerhalb der NVA völlig uneinheitlich. Innerhalb der NVA-Führungskader hatte sich eher das Bild festgesetzt, es seien vor allem Schwule, Kriminelle und ein paar Christen zwischendrin. Aber von der Zusammensetzung waren es überwiegend Leute die christlich geprägt waren und durch die Kirche dahin gekommen sind. In meiner ganzen Baueinheit gab es 150 Bausoldaten, davon hatten nur zwei Personen eine kriminelle Vergangenheit. Wobei die total nett waren und nur irgendwelche Kleinigkeiten gemacht hatten. Es waren keine Schwerverbrecher. Aber die waren wirklich wie von einem anderen Stern innerhalb dieser Truppe. Und es gab, glaube ich, auch nur einen der schwul war bzw. sich offen dazu bekannte. Für z.B. die Unteroffizieranwärter am Standort Bärenstein im Erzgebirge waren wir aber eher unberechenbare Kriminelle, Schwule und ein paar Christen.

Wie haben Sie ihre Studienzeit erlebt und die gesellschaftlichen Umbrüche?

Letztendlich ist das Jahr 1989 das wichtigste Jahr in meinem Leben. Das war eine Zeit, die, wenn man sie nicht selbst erlebt hat, man sich nur sehr schwer vorstellen kann. Alle die aktiv dabei waren wussten, dass etwas wirklich Historisches geschieht. Und die Umbrüche waren alle überraschend, unvermutet, unverhofft, ... Aus meiner Sicht ist es wirklich ein Wunder, dass es dann letztendlich so kam, wie es abgelaufen ist.

Kam der Mauerfall für Sie überraschend?

Absolut, ja! Ich hatte am 9. November nicht damit gerechnet und ich habe das in diesem Moment auch als totale Katastrophe empfunden.

Ich habe vom „Mauerfall“ vor dem heutigen Ökohaus erfahren. Wir waren gerade auf der Donnerstagsdemonstration, als wie ein Lauffeuer die Nachricht herumging. Ich hielt es für den letzten genialen Schachzug der SED ihre Macht zu sichern. Das sie einfach sagen: „Wir machen jetzt die Grenze auf, alle Leute die raus wollen“ – und so war es zum Teil auch geplant – „die gehen raus. Wem`s nicht passt, der kann gehen und mit dem Rest werden wir dann schon fertig.“ Und diese Gefahr hat es gegeben. Die ersten die ausgereist sind haben einen Stempel in den Pass bzw. Personalausweis bekommen, der die Wiedereinreise verhindern sollte. Aber da es eine solche Masse war, die davon Gebrauch gemacht hat, wurde das System damit überfordert. Mich haben am 10. November in der Bornholmer Straße (Grenzübergang in Berlin, die Red.) die Menschenmassen am meisten beeindruckt, die fröhlich aus dem Westen wieder zurückkamen.

Haben Sie auch Wünsche verbunden mit der Maueröffnung?

Nein, zuerst gar nicht. Ich war am 10. 11. in West-Berlin und tief beeindruckt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich vor meinem 65. Geburtstag in den Westen kommen würde.  Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Aber damals hatte man das Gefühl, dass es wahrscheinlicher war auf den Mond zu kommen als in den Westen.

Wie hat das NEUE FORUM auf die Maueröffnung reagiert?

Es war Helmut Kohl, der die Stunde der Geschichte erkannt hat. Wenn er und sicherlich andere nicht so entschlossen gewesen wären, dann wäre es sicherlich nicht bei einer dauerhaften Maueröffnung geblieben. Leute wie Lafontaine im Westen und viele eher linke Oppositionelle, wie ich im Osten, hatten eine andere Idee verfolgt. Etwa, dass man erst einmal mit dem Westen Reparationszahlungen verhandelt, damit wir unser System aufbauen können und dann nach zehn oder zwanzig Jahren schaut, wenn dann die gleichen Arbeitsbedingungen herrschen, ob dann noch über eine Föderation oder etwas ähnliches nachgedacht werden kann. Und genau das war komplett unrealistisch! Es gab nicht die leiseste Chance dafür. Das ist uns erst sehr spät bewusst geworden. Deswegen hat das NEUE FORUM auch überhaupt nicht auf die Maueröffnung reagiert. Wir waren völlig überfordert. Wir haben uns genau in diesen Tagen in Berlin getroffen und haben über das Selbstverständnis des NEUE FORUM diskutiert. Aber wir haben es nicht geschafft, eine sinnvolle Erklärung zur Maueröffnung zu Papier zu bringen. Das war schon traurig. Aber die Funktion des Neues Forum war in dieser nicht Situation nicht die große historische Perspektive, sonder die konkrete Krisenbewältigung in der DDR.