Dietlind Glüer - Gespräche mit Akteur*innen der DDR-Opposition

Interview mit Dietlind Glüer (Hörfassung)

Wann haben Sie angefangen sich in der Opposition zu engagieren?

Richtig engagiert habe ich mich eigentlich erst 1989. Davor habe ich natürlich mit vielen Leuten Kontakt gehabt, die nicht angepasst waren. Also mit Eltern vor allen Dingen, bei denen es immer wieder um Kindererziehung ging. Menschen, die fundamentale Kritik am Schulsystem der DDR übten. Es war ja im Rahmen der Kirche möglich solche Sachen zu diskutieren. Man konnte sich eine Meinung bilden und sich angstfrei dazu äußern. Ich habe sehr viel Kontakt gehabt mit Eltern und sie auch immer wieder ermuntert in den Schulen verschiedene Dinge zu versuchen, sich einzubringen und nicht abseits zu stehen. Aber das war eigentlich alles im Vorfeld, wo wir in der Kirche bereits konfrontiert waren mit Leuten die nicht einverstanden waren mit diesem System „DDR“.

Wie kamst du zum NEUEN FORUM?

Das war eigentlich nur folgerichtig, wenn man jahrelang mit Leuten arbeitet, damit sie selbständig sein können und ihre Meinung sagen auch wenn sie kritisch zu Glaubensdingen stehen. Das haben wir immer befördert. Und die Zeit war auch einfach reif, denke ich. Da kamen viele Sachen zusammen. Das weiß man ja. Und ich hatte eben viel Kontakt mit jüngeren Leuten. Die waren im Schnitt 20 Jahre jünger als ich. Es war eben so eine Zeit wo man gedacht hat: „So! Jetzt oder Nie!“ Ich bin extra nach Schwerin gefahren und hab da die Gründungsveranstaltung des NEUEN FORUM miterlebt. Ich konnte die Forderungen alle bejahen. Dazu kam, dadurch, dass ich die Arbeitsstelle gewechselt hatte, hatte ich praktisch erstmal einen leeren Kalender. Und das war natürlich sehr günstig. Insofern hatte auch keiner gefragt, was ich wo mache und ich hatte auch genügend freie Zeit. Die anderen konnten ja nur nach Feierabend tätig werden. Ich konnte auch am Tag etwas organisieren.

Wie hat sich die Gründung in Rostock dann vollzogen?

Ich bin aus Schwerin zurückgekommen und habe gesagt: „In Rostock muss es doch auch Leute geben, die sich versammeln im Neuen Forum.“ Und die haben wir gesucht. Ich bin mit Hans-Joachim Gauck und noch einer Kollegin nach Kühlungsborn gefahren, weil wir gehört haben, dass dort  jemand wohnt, der die Gründungserklärung  mit unterzeichnet hat. Den haben wir „interviewt“. Das war ein Methodistenpfarrer. Bei dem haben wir uns schlau gemacht und etwas Info-Material bekommen.

Dann habe ich immer wieder Leute angesprochen bei denen ich dachte: „Mensch. Sind die NEUES FORUM?“ Wir haben dann gesagt: „Wir müssen uns doch mal treffen.“ In der Methodistenkirche kamen wir dann zusammen und dort stellte sich heraus, dass Rainer Off schon einen Kreis hatte der sich bereits NEUES FORUM nannte. Es gab bereits verschiedene Gruppierungen aber die haben sich nie öffentlich als NEUE FORUM deklariert. Für uns stand fest: „Es muss doch unser Interesse sein diese Gruppen zusammen zuführen. Nur so können wir ja etwas bewirken.“  So kam es zu dieser ominösen Gründungsveranstaltung. Das kam auch überraschend für uns. Wir hatten eingeladen mit den Forderungen von Bärbel Bohley und Jens Reich aus dem NEUEN FORUM BERLIN, die wir bekanntgeben wollten und diskutieren. Wir wollten sehen, ob auch in Rostock Menschen sind, die sagen: „Das ist unser Ding. Das machen wir mit.“ Wir waren aber völlig überrascht, dass so viele gekommen waren. Über 400 mit entsprechender Durchsetzung von Staatsleuten. Wir haben die dann schnell in Gruppen aufgeteilt, damit die diskutierten. Meine Aufgabe war es diesen Abend zu moderieren, was ja nun auch so ein bisschen mein Beruf war. Und das war schwierig, denn wir hatten die Regel, dass alle Redner sich mit Namen und Adresse vorstellen sollten. Also: „Ich heiße soundso und arbeite auf der Werft … .“ Und das machten die Leute! Das war etwas besonderes, weil niemand anonym redete, sondern einstand für seine Meinung. Aber die Staatsvertreter sagten natürlich nichts. Das war nun meine Aufgabe die dazu zu bewegen. Und wir brauchten viel Zeit. Das war die Taktik von denen. Die wollten natürlich die Zeit für sich in Anspruch nehmen, damit die Leute nicht soviel zum reden kommen oder, dass nicht so viele kritische Meinungen kamen. Nun musste ich die ständig disziplinieren. Das war schwierig und ich hab da ziemlich rumgerudert. (Lacht.) Ich musste versuchen die Redezeit zu begrenzen. Auch das war schwierig. Und da haben wir sie dann nachher in Gruppen aufgeteilt und das war goldrichtig. Lauter Gruppen die da bis nach Mitternacht diskutiert haben. Das war ganz toll.

Und die Gruppen haben sich nach Themen sortiert?

Die haben sich später erst nach Themen gruppiert. Am Anfang haben wir die einfach so eingeteilt und sie haben sich später selbstständig nach Themen sortiert. Es wurden dann die sogenannten Basisgruppen „Staat und Recht“, „Erziehung“ und „Wirtschaft“ gegründet. Wir gingen damals ja noch davon aus die DDR zu reformieren und dafür mussten wir ein Programm erstellen. Und basisdemokratisch wie wir waren, wollten wir dies von unten her angehen. Das waren so unsere Vorstellungen, aber wir merkten sehr schnell, dass es sehr schwierig ist mit Menschen die so unterschiedlich sind eine Struktur aufzubauen.

Wir waren später der Sprecherrat und manche Basisgruppen brachten uns ihre Protokolle mit den Worten: „Wir bringen euch unsere Protokolle damit ihr die sammeln und sichten könnt, aber dennoch müssen die wieder von ALLEN diskutiert werden.“ Wir wurden so zugedeckt, dass wir total überfordert waren. Aber es war auch toll wie viele Leute sich Gedanken machten. Wenn ich an „Erziehung und Bildung“ denke, wie viele Eltern diskutiert haben um ein anderes Schulsystem zu entwickeln. Wunderbar! Ich fand das sehr schade, dass das mit der ersten Landtagswahl alles wieder gekappt worden ist, weil das dreigliedrige Schulsystem eingeführt worden ist. Die Eltern waren damals so kreativ. Das hat mir eigentlich Leid getan.

Hätten Sie eine Möglichkeit gesehen, dass es nicht einfach „übergestülpt“ wird?

Na ja, ich weiß nicht. Das haben die ordentlich gewählten Leute beschlossen. Es ist ja nicht zwangsweise über uns gekommen, sondern die haben dem zugestimmt. Es haben sich einfach zu wenige Leute stark gemacht für bestimmte andere Sachen. Nur mal zum Exkurs. Wenn sich andere Leute für ihren Bereich so stark gemacht hätten, wie Joachim Gauck für die Aufbewahrung und Bearbeitung der Stasi-Akten, hätten die sich vielleicht auch durchsetzen können. Es war ja auch kein leichter Weg, aber er war so beseelt davon und hat Unterstützer gefunden bis in den Bundestag. Ich weiß, dass er ewig irgendwelchen Abgeordneten die Bedeutung der Akten eingepriestert hat. Ich denk mir manchmal, wenn andere im „Gesundheitswesen“ oder anderen Bereichen genauso gekämpft hätten, wären vielleicht auch andere Anliegen verwirklicht worden!?

Wie genau hat der Sprecherrat funktioniert? Es gab ja auchHäusergruppen?!

Ja, das waren diese Basisgruppen. Wir hatten keine Versammlungsräume, wir mussten uns in privaten Wohnungen treffen. Die Methodistenkirche und die theologische Studentengemeinde waren die einzigen Institutionen in Rostock, die uns Gruppenräume zur Verfügung gestellt haben. Aber wir wollten auch aus dem kirchlichen Raum raus. Wir waren viel zu viele und haben einfach ganz unkonventionell diese Basisgruppen gegründet. Wenn jemand Interesse bekundet hat mitzuarbeiten, haben wir immer gefragt: „Was ist Ihr Interessengebiet?“ und  haben wir ihm eine Kontaktadresse gegeben und gesagt: „Da gehen Sie bitte hin!“Und das hat auch funktioniert in den ersten Wochen.

Als zunächst selbsternannter Sprecherrat haben wir den Gruppen auch Informationen zukommen lassen. Aber bald wollten wir nicht mehr so provisorisch arbeiten und haben beschlossen uns regulär wählen zu lassen. Die Modalitäten waren wie folgt festgelegt. Aus jeder Gruppe konnten Namen genannt werden. Wer sich wählen lassen wollte, oder gewählt werden sollte. Da waren wir ziemlich unkonventionell. Auf der Vollversammlung um den 4. November in der Petrikirche mussten sich alle vorstellen. Jede Basisgruppe war mit drei Vertretern anwesend. Wir konnten ja nicht alle teilnehmen lassen. Dann wären wir ja nie zu Pott gekommen. Die Basisgruppen waren unterschiedlich groß. Manche hatten 20, manche 10 Mitglieder. Das war ganz unterschiedlich. Aber das war ja auch räumlich begrenzt. In ein Wohnzimmer passt ja nicht mehr. Die Modalitäten weiß ich auch nicht mehr, aber wir haben die Delegierten begrenzt. Die Basisgruppe konnte Vertreter wählen, und die Vertreter konnten den Sprecherrat wählen. So war das System. Wir haben uns alle vorgestellt und so bin dann auch ich gewählt worden.

Waren das damals eigentlich ihre ersten basisdemokratischen Erfahrungen?

In diesem Umfang ja. Wir haben natürlich in der Kirche das solidare Prinzip gehabt, so dass ich vertraut war mit Gruppenbildung, Gruppenmeinung und damit Entscheidungen zu bündeln. Aber das war alles nur im kirchlichen Raum. Damit hatte ich Erfahrung, aber nicht mit politischer Entscheidungsfindung. Und nicht mit so einem Spektrum. Das NEUE FORUM war ja so eine Sammelbewegung. Das können Sie sich gar nicht mehr heute vorstellen, was da auch für obskure Vorstellungen waren. Von da bis da. (Macht eine weite Handbewegung.) Und das wollte man bündeln und irgendwo in eine Struktur gießen. Das ist dann natürlich auch nicht so gelungen. Und ich hab von Leuten auch den Spruch gehört: „Ihr müsst in die Partei gehen.“ Die SPD hatte sich damals neugegründet und die fanden uns natürlich viel zu uneffektiv. Und für wen das schnell gehen musste mit dem entscheiden und gestalten, der war bei uns auch nicht richtig. Der musste auch in eine Partei gehen. Da ging es zügiger voran. Aber ich fand es wichtig damals die Leute zu ermuntern. Und das war auch eine ganz wichtige Zeit damals. Das auch Hans und Franz ihre Statements und Erfahrungen abgeben konnten. Aber deswegen war es auch so schwer zu bündeln und zu strukturieren.

Wie schätzen Sie denn insgesamt die Bedeutung vom NEUE FORUM in dieser Zeit ein?

Es war denke ich eine Plattform, aber auch eine Möglichkeit sich selber zu klären. Die Leute wussten ja oft noch gar nicht, „bin ich in der CDU richtig oder in der SPD?! Welche Partei vertritt denn meine Vorstellungen?“ Das mussten sie ja auch mal in der Diskussion ausprobieren. Ich denke das war für viele Menschen auch eine Entscheidungshilfe. Das sie nachher sagten: „Dies will ich nicht, aber das will ich.“Und sicherlich hat man auch Leute kennengelernt.

Ich finde man sollte nicht unterschätzen, wie wichtig es ist Leute zu treffen und auch gemeinsam etwas zu verwirklichen. Also wie die Demonstrationen zum Beispiel. Dass nicht fest war, wer da nun was machte. Das alle sich ein bisschen ausprobieren und bewähren konnten. Wir haben immer Aktivisten gehabt, da hab ich immer gestaunt: „Mensch! Woher kann der das?“

Es war eigentlich so eine Art Sprungbrett in die nächste Zeit.

Ja. Das war es eigentlich. Es war wichtig. Eine Möglichkeit, wo sich ganz viele beteiligen konnten. „Wir sind das Volk! Wir machen das. Das macht nicht die SPD, das macht nicht die CDU! Die machen alle mit.“

Das NEUE FORUM hat wirklich so eine breite Plattform angeboten.