Christoph Kleemann - Gespräche mit Akteur*innen der DDR-Opposition

Interview mit Christoph Kleemann (Hörfassung)

Herr Kleemann, Sie haben von 1999 bis 2009 als Leiter der BStU in Rostock gearbeitet. Ist es ihnen schwer gefallen die eigenen Stasi-Akten einzusehen?

Nein, nicht unbedingt. Erst einmal war es Neugier. Ich wollte wissen: Was haben sie mitbekommen, und was haben sie nicht mitbekommen? Ich hatte sehr viele Kontakte ins Ausland und in die Bundesrepublik. Verwandte, Freunde, aber auch Studenten aus der Bundesrepublik mit denen wir einen regen Austausch pflegten. Ich habe dann aber festgestellt, dass es ein sehr umfangreiches Konvolut an Akten war und die Stasi sich mehr mit mir beschäftigt hatte, als angenommen; dass sie in meiner Wohnung gewesen sind, mein Telefon verwanzt haben. Post natürlich mitgelesen, abfotografiert haben. Dass sie mir mit dem Auto hinterhergefahren sind und mich beobachtet haben. „Um 9.15 Uhr ist er mit Aktentasche dort hinein...um 10.15 Uhr ohne Aktentasche herausgekommen...“ Lauter dummes und sinnloses Zeug, das sie bestimmt nicht weitergebracht hat. Aber sie haben ermittelt gegen mich. Wegen verschiedener Paragraphen. Zum Beispiel wegen „staatsfeindlicher Hetze“ und wegen „öffentlicher Herabwürdigung“. Und daraus hätte man irgendwann einen Prozess machen können. Dazu ist es zum Glück nicht mehr gekommen.

War die Lektüre etwas „Lächerliches“ für sie?

Nein, nein! Ich hab das schon sehr ernst genommen. Wenn man die eigene Biographie noch einmal durch die Augen eines anderen sieht, sozusagen eines Gegners - denn sie hatten ja eine meinem Blickwinkel entgegengesetzte Sichtweise – dann liest sich das alles wie völlig neu. Dann kriegt man ein seltsames Gefühl. Ich habe gemerkt, dass ich mich mit meiner eigenen Vergangenheit viel intensiver auseinandersetzen muss.

Hatten Sie die Hoffnung, dass sich die DDR „zum besseren“ wandeln könnte?

So naiv war ich, ja, immer mal wieder zu glauben, dass eine neue Generation in der Führungsriege der DDR heranwächst, die liberaler gesinnt ist. Man hoffte schon, als Honecker von Ulbricht die Macht übernahm, dass sich etwas lockern würde. Es gab auch einige Anzeichen dafür, aber im Großen und Ganzen war eine Liberalisierung nicht in Sicht. Die hätte es nur geben können, wenn die SED auf ihren Führungsanspruch verzichtet und sich ganz regulären Wahlen gestellt hätte -  gleichberechtigt neben allen anderen Parteien. Ich bin mir sicher, dass sie dann relativ schnell aus der staatlichen Verantwortung entlassen worden wäre. Dazu war die SED nicht bereit, und insofern war es schon naiv zu glauben, dass es eine grundlegende Veränderung geben könnte. Meine Hoffnung war immer, dass durch internationalen Druck und wirtschaftliche Abhängigkeit (man wusste natürlich, dass die DDR am Tropf des Westens hing) die DDR zu Zugeständnissen im Inneren bereit sein könnte. War sie aber auch kaum. Also war das ein Irrtum. Die Hoffnung auf eine Erneuerung der DDR von innen her, muss ich heute sagen, war politisch etwas unbedarft.

An eine Selbsterneuerung haben wir 1989 auch nicht mehr geglaubt. Aber wir haben gehofft,  als die Bürgerbewegungen und neuen Parteien sich bildeten und Druck von der Straße aus aufbauten, dass die SED-Führung abtreten könnte, weil sie isoliert war und keine Konzepte mehr hatte. Sie hatte ausgedient, und die Staatssicherheit war am Ende ziemlich desolat. Die scheint sich 1989 selber kaum mehr über den Weg getraut zu haben. Das wäre eine Chance gewesen. Aber dann kam aber relativ schnell die deutsche Einheit. Wenn es nicht zu dieser gekommen wäre, wenn Gorbatschow gesagt hätte, Wiedervereinigung kommt nicht in Frage,  hätte es nur zwei Optionen gegeben: entweder die „chinesische Lösung“, die Opposition im Keim zu ersticken, was aber nicht funktioniert hätte. Das war kein Keim mehr, da war schon ordentlich etwas herangewachsen. Oder aber die andere Lösung: die DDR-Führung hätte ein Zugeständnis nach dem anderen machen müssen, angefangen von Reisefreiheit, über Zugeständnisse im wirtschaftlichen Bereich, im Bildungsbereich, bis zur Zulassung von privaten wirtschaftlichen Initiativen, kurz: Öffnung nach allen Seiten. Und dass wäre eigentlich auch bloß ein verlängertes Ende der DDR gewesen.

Wie war die Stimmung im November '89?

Ganz anders als sonst. Das war der fröhlichste November meines Lebens. Jeden Tag passierte etwas Neues. Für mich sind die unglaublichsten Dinge im Oktober passiert. Der Mauerfall war für mich gar nicht das entscheidende Ereignis, sondern der 9. Oktober mit der riesigen Demo in Leipzig. Das war für mich das Fanal für den Zusammenbruch der DDR. Alles andere kann man eigentlich Folgen nennen. Auch was wir in Rostock gemacht haben kam ja ein bisschen spät.

Genau genommen war die Zeit auch viel zu bewegt, als dass man hätte konkrete Visionen entwickeln können. Wir sind ja jeden Tag eingeholt worden von neuen Ereignissen.  Das heißt, man musste immer umdenken. Jeder Tag war wie in einem Kaleidoskop, wenn Sie  nur eine Millimeterdrehung machen, verändert sich das gesamte Bild. Da gab es so viele unberechenbare Faktoren. Wir sahen ja jeder auch bloß unseren kleinen Ausschnitt und hatten kein Gesamtbild der DDR. Aber selten war man so beseelt. Wir hatten ein Ziel: Die SED mit ihrem Führungsanspruch muss weg, ab in die Schrottkiste der Geschichte. Viele haben schon früh angefangen, über Vereinigung zu diskutieren. Wir meinten: „Lasst uns ein bisschen Zeit! Wir haben noch gar nicht genau analysiert, wo wir genau stehen mit der DDR. Wir können diesen Laden so aber auch nicht weiter laufen lassen. Politisch, wirtschaftlich und bildungspolitisch ist soviel Veränderungsbedarf. Lasst uns doch erstmal aufräumen und dann über Vereinigung nachdenken.“ Es wäre mir lieber gewesen, wir hätten erstmal den eigenen Stall gereinigt. Wir waren genügend motiviert und mit viel Fantasie, Professionalität und Kraft ausgestattet. Es kamen Menschen, die sich lange Zeit im Hintergrund gehalten hatten, weil sie nirgends eine Chance sahen. Und diese Leute hätten viel machen können. Übrigens hätte man so auch Zeit gehabt, auf der anderen deutschen Seite etwas Stallbereinigung zu betreiben. Aus dem kalten Krieg kam keine Seite schadlos heraus. Das ist dann aber alles durch die politischen Blitzentscheidungen unmöglich geworden.

Wieso sind Sie gerade zum NEUEN FORUM gegangen?

Weil das NEUE FORUM sich als eine Art Plattform verstand und alle zu einem politischen Diskurs eingeladen hat. Eine Plattform, wohin alle kommen können - egal ob von links oder von rechts - um offen miteinander zu diskutieren, das also, was vierzig Jahre lang nicht möglich war.   Das ist auch meine Vorstellung von Demokratie, wie sie sein sollte. Deswegen hieß unsere Zeitung auch „Plattform“. Und ich habe sehr darauf geachtet, dass Leute von links und von rechts zusammenkamen und jeder in dieser Zeitung veröffentlichen konnte, was ihm wichtig war. Jeder durfte seinen Standpunkt darstellen. Das hat mich fasziniert. Zu uns kamen die unterschiedlichsten Leute, z.B. einer von der Volkspolizei, der eine Anti-Terroreinheit aufbauen sollte.  Er ist später Polizeipräsident in Schwerin geworden.

Immer kamen neue Leute, die beim NEUEN FORUM mitmachen wollten. Dafür gab es dann  bestimmte Arbeitsgruppen, zu Wirtschaft, zu Bildung etc. ... . Rostock ist ja nur eine Kommune, und wir wollten, dass sich das, was sich in der DDR erneuern muss, zeichenhaft in der Stadt vollzieht. Wir hatten z.B. eine Gruppe, die den Auftrag hatte, im Rathaus die Abteilung Volksbildung zu kontrollieren. Bis dann am Ende das gesamte Rathaus kontrolliert wurde von den neuen Kräften. 

Woraus bestand die Basis des NEUEN FORUMS?

Das NEUE FORUM ist sicher dominiert gewesen von Kirchen-Leuten. In der Kirche war Demokratie schon erprobt worden. Die Synoden der evangelischen Kirche funktionierten demokratisch, mit freier und geheimer Wahl und freier Rede. Das heißt, wir hatten aus dem Kirchenraum heraus schon ein bisschen Demokratieerfahrung. Dann kamen alle möglichen anderen Leute dazu und klinkten sich ein. Ich würde allerdings sagen, dass der Kern der Bürgerbewegungen aus der intellektuellen Szene kam. Das bedeutet: Eine breite Basis in der sog. „werktätigen Bevölkerung“ hat das NEUE FORUM nicht gehabt. Es gab zwar auch Leute des NEUEN FORUM in den Betrieben, aber das waren oft Leute, die ohnehin schon gewerkschaftliche Ambitionen besaßen, also bereits eine Art Vordenkerrolle innehatten. Eine wirklich breite Basisbewegung wurde das NEUE FORUM nicht. Und das ist auch seine Schwäche gewesen. Wenn das FORUM eine andere Erdung gehabt hätte, wären gegebenenfalls die Wahlen 1990 anders verlaufen.

Aber das NEUE FORUM hat allen Menschen eine „kleine Heimat“ gegeben, die nicht wussten, wohin mit sich in dieser Zeit. Es hat vielen Menschen ein Stück Orientierung vermittelt und hat ihnen die Möglichkeit gegeben, sich zum ersten Mal politisch auszuprobieren, ohne dass das gleich wieder irgendwo ideologisch ausgeschlachtet werden konnte. Das war freie politische Betätigung. Aber es war eben auch eine Übergangsinstanz (im Gegensatz z.B. zur SDP, die sich dann eben als SPD mit der West-Schwester vereinigte),  für Menschen, die das politische Klima in Deutschland mit gestalten wollten und konnten. Auf Dauer war das NEUE FORUM dazu nicht in der Lage.

Wie erging es dem NEUEN FORUM nach 1989?

Schlecht. Die Leute wählten im März mehrheitlich die CDU. Es gab einen Ruck nach rechts. Die Leute vertrauten den konservativen Versprechungen Helmut Kohls mehr, als dem was wir uns selber erdacht hatten und wovon ja auch manches praktikabel gewesen wäre.  Die Visionäre aus dem NEUE FORUM zogen sich langsam wieder in ihre Nische zurück.  Andere haben sich den neuen Parteien zugewandt, sind in die SPD gegangen oder auch in die CDU. Und manche, die im NEUEN FORUM verblieben sind, haben sich entschlossen, sich mit den Grünen zu verbinden. Ich habe das nicht gemacht. Ich bin immer parteilos geblieben. Aber mit der Zeit ist das Forum in anderen Parteien aufgegangen.

Wie hat sich ihre Amtszeit als Oberbürgermeister gestaltet?

Abenteuerlich. Schon allein diesen „Posten“ besetzen zu müssen. Das war ja eine Entscheidung des Runden Tisches, nachdem der bisherige Oberbürgermeister zum Rücktritt gezwungen war. Und da war mir erstmal ziemlich mulmig. Ich war völliger Laie, hatte keine Ahnung von Verwaltung. Also wie sollte ich da im Rathaus dieser Aufgabe gerecht werden? Ich wusste nicht, wie eine Kommune verwaltet und regiert wird und hatte 18 Stadträte, deren Vorgesetzter ich plötzlich war. Die meisten davon SED-Funktionäre. Ich musste befürchten, sie würden mich linken, wo sie nur können! Aber der Runde Tisch war wachsam und hat mir weitere 18 Vertreter des Runden Tisches mitgegeben, so dass jeder Stadtrat einen Kontrolleur an der Seite hatte. Das war für die alten Stadträte sehr kompliziert, schwierig zu begreifen und sehr schwer anzunehmen. Das hieß z.B., wenn wir Dienstberatung hatten, saßen da nicht 18 Stadträte, sondern 36. Und ich wusste, dass die Hälfte der Stadträte schon mal zu mir hält, weil wir gemeinsam vom Runden Tisch beauftragt waren und unsere Aufgabe nicht darin bestand, in der kurzen Zeit bis zur Kommunalwahl ein neues kommunalpolitisches Modell einzuführen.

Drei Monate hatte ich die Funktion inne. Dann waren Kommunalwahlen und im Juni wurde der neue Oberbürgermeister gewählt. Er kam ursprünglich auch vom NEUEN FORUM, war aber inzwischen der SPD beigetreten. Ich wurde zum Präsidenten der Bürgerschaft gewählt und habe das Amt 4 Jahre lang ausgeübt. Dort kam ich meinem eigentlichen Interesse näher. Es gab ja keine kommunale Selbstverwaltung in der DDR, da alles zentral gesteuert wurde. D.h. wir mussten eine neue Hauptsatzung erarbeiten und alle kommunalen Regeln.  Da konnte ich mich ordentlich reinhängen und mitgestalten.

Haben sich Ihre Hoffnungen mit der Wiedervereinigung bestätigt?

Was die Demokratisierung angeht, ganz klar ja. Ich gehöre auch nicht zu den Jammerern, die sich beschweren, dass man nicht alles bestimmen kann und nur wählen darf und auch da nicht weiß, wen man wählen soll. Wir haben damals mitbestimmen wollen und durften nicht. Heute können wir mitbestimmen und wollen es nicht. Das heißt, die Struktur der Demokratie ist da und man kann sich einmischen, wenn man will. Es ist kompliziert. Das stimmt. Damals waren drei Leute, die sich mit einer brennenden Kerze auf den Marktplatz gestellt haben, schon eine Oppositionsgruppe. Wenn heute dreitausend Demonstranten durch eine Stadt gehen, werden sie kaum wahrgenommen. Aber sie können es! Ich kann in jede Partei eintreten, in die ich will und kann dort mitarbeiten. Ich kann mich aber auch außerhalb der Parteien engagieren. Es gibt in diesem Land eine unglaublich weit gefächerte Szene von Ehrenämtern, wo man ganz viel bewegen kann. Also ich kann das Klagen schlecht hören, aber ich muss auch sagen, dass es sich anders verwirklicht hat, als ich gedacht habe. Ich habe nicht gewusst, wie schwer Demokratie ist. Zu DDR-Zeiten hatte ich nur den Traum von Demokratie. Heute weiß ich: Demokratie am Leben zu erhalten ist schwere Arbeit.